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Paul Haller an die Mutter

Basel, 5. November 1902

Liebe Mutter!

Soeben habe ich Feuer in meinen Ofen & schon knistert es ganz behaglich; auch scheint die Sonne durch den Nebel & mein Fenster. Trotz alledem habe ich noch kalte Füsse & kalte Hände. Neben mir liegt eine angebissene Birne & auf der andern Seite meine Tabakspfeife. Dies das Situations- & Stimmungsbild.

Meine besten Wünsche, verkörpert in Messmocken & Lebkuchen, sende ich Dir zum Geburtstag. Vater schreibt mir, Du habest so viel zu tun & wahrlich, Du hast auch den ganzen Sommer & Herbst nicht ausruhen können bei der Leitung unserer Nervenheilanstalt. Es ist unbedingt nötig, dass Du eine Zeit lang aussetzen kannst & Vater schreibt, er werde Dich nach Zofingen schicken. Aber bekomme dann nicht gleich das Heimweh!

Die beiden Riesenapparate, die ich beigelegt habe, kannst Du entweder selbst behalten oder an Schwester & Lilly abgeben. Die Einstellung wäre nicht so übel, wenn es besser gearbeitet wäre. Aber weisst Du überhaupt, zu was die Maschine gut ist? Willst Du einen Knopf annähen & dazu eine Nadel einfädeln, so musst Du das Ding in die linke Hand, sodass der kleine Trichter nach oben schaut. Dann steckst Du die Nadel mit dem Öhr nach unten in den kleinen Trichter, nimmst den etwas zugespitzten Faden in die rechte Hand & führst ihn in den grösseren Trichter hinein, bis er bei dem ganz kleinen Loch heraus kommt; dann ziehst Du mit der rechten Hand die Nadel heraus & der Faden ist eingefädelt (oder auch nicht). Es braucht immerhin eine kleine Übung dazu; aber die Augen werden geschont. – Bequemer ist es noch, um dicke Wolle einzufädeln. Man legt einfach den Faden in den Einschnitt der kleinen Flagge am untern Teil, zieht ihn ein bischen an & fährt mit der Öse über die Flagge herunter; dies ist also bequemer beim Brodieren oder Strümpfestopfen. Schade, dass Ihr den Vortrag nicht hören könnt, den der Verkäufer dieser „kleinsten Maschine der Welt“ darüber hält.

An Vater besten Dank für den Brief & die Geldsendung & Dir natürlich für die Birnen, die allmälich den Weg des irdischen gehen. – Ich gehen wieder alle 14 Tage zu Herrn Pfr. Christs zum Essen & alle Mittwoch & Samstag zu Tante Marie zur Shakespearelectüre. Auch in der Hoffnung war ich schon; Luise hat sich von ihren „Strapazen“ gut erholt & der Kleine hat eine kräftige Stimme. Auch zu Tante & Vettern im „Jenseits“ gehe ich hie & da & habe also nicht Bedürfnis nach weiterer Einführung. Bei P. Wernle wollte ich letzthin meine Antrittsvisite machen, traf aber nur eine höchst „glächerige“ (von ihr als Subject aufzufassen) Magd an. Herr & Frau Prof. waren ausgegangen. In der Talben war ich bis jetzt nicht, werde aber bald hingehen.

Was ist denn das für eine schlankwerdenwollende Glätterin, von der Vater schreibt? Ich habe geglaubt, man falle nur noch auf dem Theater in Ohnmacht.

Den Matkowsky hättest Du als Hamlet sehen sollen! Ich glaube fast, Du hättest Dein Urteil über das Theater einwenig gemildert, wenn Du ihn die Shakespearschen Worte hättest in die Welt schmettern hören! Ein solches Drama besitzt doch einen unvergänglichen Wert & es muss auch Leute geben, die es uns in der richtigen Form vors Auge führen! Schade nur, dass nicht immer die Leute Schauspieler werden, die wirklich das Talent hätten; die meisten dürfen es nicht ihrer Angehörigen, ihrer Umgebung wegen; & so wird die Bühne eine Zuflucht für verkrachte Existenzen oder doch für Leute, die glauben, hier einen mühelosen & angenehmen Gelderwerb zu finden. Die Gesellschaft der Schauspieler wäre aber eine ganz andere, wenn nur die talentierten, dann aber auch solche aus bessern Ständen, sich dieser Carrière widmen würden.

Am Sonntag will ich die Böcklinausstellung gehen, die ich bis jetzt noch nicht gesehen habe. Es sollen noch sehr wertvolle Sachen dabei sein.

Für mein Studium habe ich ziemlich viel zu arbeiten. Ich bin in 2 Seminarien, wo man immer praeparieren sollte, höre Kirchengeschichte, Phil. etc. Ich hoffe, dies Semester mich recht ins Hebräische stecken zu können; das Sommersemester war so kurz & auch das Wetter war schöner als jetzt. Daneben besteige ich auch etwa meinen alten Klepper Pegasus, der mir immer noch treu geblieben ist & mir schon oftmals Freude & Befriedigung gewährt hat.

Tante Marie hat es höchst merkwürdig gefunden, dass Hanni Schmid so lange nicht kam; es hat sie ganz in Aufregung gebracht, dass Lilly die Schwester vergeblich erwartet habe. – Sie lässt Vater bitten, Ihr die „Britisch Weekly“-Hefte zurückzusenden, da sie noch weiter wandern sollen.

Ist wohl Onkel Fritz noch da? Ich lass’ ihn grüssen, wenn ja.

Ich wollte, ich hätte in meiner Bude eine Kunst statt eines Kanapums; es würde sehr zur Gemütlichkeit beitragen. Übrigens ist jetzt mein Ofen, meine Hände & Füsse so ziemlich warm geworden.

Grüsse an Euch alle, an Hausens & wer gegrüsst sein will.

In treuer Liebe

                          Dein Paul.